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Urs Lüthi
1947 in Kriens, Switzerland
Biography
Works

Lüthi, Urs * 10.9.1947 Luzern
Fotograf und Maler. Zeichnung, Plastik, fotogra-fische Selbstinszenierung.
Prägende Bekanntschaften mit der Glarner Malerin Lill Tschudi in den Jugendjahren und mit Hansjörg Mattmüller am Vorkurs der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich 1963. Anschliessend längerer Aufenthalt in Mailand. Seit 1966 arbeitet Urs Lüthi als freier Künstler. 1977 verbringt er ein Jahr in den USA. Urs Lüthi war mit Manon und Elke Kilga verheiratet, seit 1986 mit der Schauspielerin Ulrike Willenba-cher. 1989 Geburt der Tochter Maria. Seit 1994 Professur an der Kunsthochschule der Gesamt-hochschule Kassel. Unter den vielen Gruppen-ausstellungen sind hervorzuheben: 1970 Visua-lisierte Denkprozesse, Kunstmuseum Luzern; 1974 Transformer, Kunstmuseum Luzern; 1977 documenta 6, Kassel, und 1981 Westkunst, Köln. Einzelausstellungen: 1970 Bern, Galerie Toni Gerber, 1974 Paris, Galerie Stadler, 1978 Essen, Museum Folkwang, 1986 Kunstmuseum Winterthur und schliesslich die Retrospektive 1993 im Bonner Kunstverein und vier weiteren Stationen in Deutschland. 1996 erhält Urs Lüthi für sein Gesamtwerk den Ehrenpreis des Kan-tons Zürich zugesprochen.
«Wir haben den Traum von einer Welt [...]», lässt Urs Lüthi seinen Katalogbeitrag an-lässlich der Ausstellung KünstlerProfessorInnen im Kasseler Kunstverein beginnen, dann fährt er Seite für Seite fort: «[...] wo Kunst ein geistiges Modell ist [...] wo Sehn-Sucht ist [...] wo das Erhabene trivial sein darf [...] und vice versa [...] wo eine Wahrheit die andere nicht ausschliesst [...] wo Reduktion nicht nur ein formales Thema ist [...] wo das Individuelle zum Allgemeinen wird [...] wo Ambivalenz eine Grundhaltung ist [...]», um mit dem Slogan «Art for a better world» zu schliessen. Dieser Text-Foto-Beitrag von 1996 liest sich wie ein spätes Manifest. Die Sätze sind Alphabet und Credo zugleich, sie reden von Sehnsucht und lassen Verlust anklingen, sie reden vom Ganzen und meinen auch den Teil, sie reden von Form und meinen damit Inhalt – und umgekehrt. Um diese Themen kreist das gesamte bisherige Werk von Urs Lüthi, so for-mal verschieden auch die einzelnen Teile er-scheinen.
Drei Akte und ein Prolog ein- und des-selben Stücks sind es bisher. Das Vorspiel leis-ten grossformatige Acrylbilder auf Hartfaserplat-ten (1966–67), eine Art konzeptueller Pop Art-Bilder, die lange Zeit isoliert dastanden, die aber durch die Arbeiten der 90er Jahre und den Ein-satz von Ornamenten als Zeichen für die Uni-verselle Ordnung – so der Titel einer Serie – ins bisherige Gesamtwerk integriert werden. Den Wechsel zur Werkphase, die Urs Lüthi internati-onal bekannt gemacht hat, markiert eine Foto-grafie der Ausstellung bei Toni Gerber in Bern 1970. Sie zeigt eine bedeutsame Inszenierung: Hinten an der Wand das Porträt des jungen Urs Lüthi mit dem Titel Urs Lüthi weint auch für Sie, am Boden eine Gummimatte, auf der in Alulet-tern der Satz «Lüthi is tougher than he appears to be» steht, und ein Eisenblock mit dem Ge-wicht von Lüthi. Der Künstler selbst stellt sich von rechts als Jüngling mit dunkler Brille und verschränkten Armen zum Setting, links schliesst ein Zierpflänzchen die Symmetrie. Diese Fotografie enthält das Vokabular der kommenden Arbeiten und versinnbildlicht die neue Haltung Lüthis: Die Absage an das Avant-garde-Prinzip. Diese Arbeit ist das zugleich mu-tige wie zaghafte, ernste wie ironische Zeugnis des Schrittes in die Verpersönlichung der Kunst, des Schrittes weg von der distanzierenden Ob-jektivität hin zur Verkörperung von Ideen und Verhältnissen. Das Bild kündet auch vom Prin-zip der Ambivalenz, am Beispiel von Ernsthaf-tigkeit und Ironie.
Die schwarzweissen Fotoarbeiten bis Mitte der 70er Jahre zeigen einen schönen, oft androgynen sexualisierten Jüngling, der zur Projektionsfigur wird: I’ll be your mirror (1972). Der offensichtliche Travestiecharakter lässt den Betrachter gerne übersehen, dass Lüthi sich hier zum Stellvertreter stilisiert, der mit den Sehnsüchten, Geschichten und Problemen kon-frontiert ist, die wir alle in uns tragen. Formal löst er die Form des Einzelbildes auf und führt die Serie, die Sequenz, das Diptychon, Triptychon und damit filmische, narrative, diskursive Er-zählweisen ein. Die meist farbigen Fotoarbeiten ab Mitte der 70er Jahre verzichten auf das Nar-zisstische zugunsten einer immer stärkeren, manchmal fast plakativen Form von Ironie, von Tragikomik, von Klamauk.
Im zweiten Akt überrascht Lüthi mit sei-ner erneuten Hinwendung zur Malerei. Die Fo-tografie verschwindet und mit ihr das Stellvertre-ter- und Verkörperungsprinzip. Es bleiben die Ironie, Sehnsüchte und Ambivalenzen, es blei-ben einige ikonografische Elemente sowie das Grundklima. Lüthi bedient sich sämtlicher Tech-niken und Stile, von der Figuration bis zur Abs-traktion, vom Comic bis zum Heiligenbild, vom Kirmes-Kitsch bis zur rauschenden Romantik. Dieses Ich-bin-Viele, die Auflösung der ge-schlossenen Identität, die in den Fotografien anhand der eigenen Figur vorgeführt wurde, wird nun in der Manier Francis Picabias im Gebrauch der Malereigeschichte als Selbstbe-dienungspalette weitergeführt. Dabei geht es um Grosse Gefühle, Reine Hingabe, Grosse Aben-teuer, Vertauschte Träume, Blumenbilder oder um Bilder für eine italienische Bar – um das Auf und Ab von Gefühlen und Welten, vom Trivialen zum Erhabenen und express zurück.
Seit Ende der 80er Jahre, wiederum verbunden mit einem frappanten Wechsel, einer Auskühlung der Mittel – weg von der Malerei und hin zu Bronzeskulpturen, Fotogravuren, Hinterglasmalereien, Fotografien –, verschwin-det das Spielerische, Klamaukige, offen Ironi-sche. Im bisher dritten Akt von Lüthis Wirken werden die Arbeiten, nun oft in der Form einer architektonischen Anordnung, einer Setzung im Raum, präzis, streng und kühl. Sie wirken zu-weilen wie exakte Versuchsanordnungen zum dominierenden Thema Universelle Ordnung. Das Bildnis von Urs Lüthi taucht wieder auf, diesmal als bronzene Büste; Zeichnungen und Malereien folgen geometrischen Mustern, sind Ornamente; die Arbeiten sind gewichtig ge-rahmt, massiv gestützt. Wiederum handeln sie vom Spannungsfeld zwischen Individuum und Universellem, die Installationen verraten aber bei aller Klarheit einen Zug von Verzweiflung. Die klare Ordnung scheint manchmal gewollt in eine schwere Leere umzuschlagen. Es herrscht das schöne Grausen des Melancholikers vor, der mit Contenance versucht, die grosse Dis-tanz zwischen Idealität und Alltäglichkeit auszu-halten.
Die neusten Arbeiten – Placebos & Sur-rogates – thematisieren in raffiniert konstruierten Bildobjekten in Pinkleuchtfarbe die verschiede-nen offiziell angebotenen Ersatzhandlungen in den Bereichen Schönheit, Sex, Sicherheit, Ge-sundheit und Kunst: «Art for a better life» – e-bensosehr Sehnsucht wie Vortäuschung.
Die Werke von Urs Lüthi umkreisen alle den Riss, der das Bewusstsein der Moderne durchzieht: Der Verlust des Ganzen nährt die Sehnsucht nach Überbrückung, nach der Hei-lung der Gespaltenheit. Ambivalenz wird so zu einer überlebenswichtigen Grundhaltung, um diese Gespaltenheit denken, leben und ertragen zu können.
Urs Stahel, 1998
Werke
Aargauer Kunsthaus Aarau; Kunsthaus Glarus; München, Städtische Galerie im Lenbachhaus.
Literatur
• Urs Lüthi. The Remains of Clarity II / III. Photographs: Urs Lüthi and Gianni Paravicini; Essay: Ursula Pia Jauch. Luzern and Poschiavo: Edizioni Periferia, 2005 [Beilage: 1 Audio-CD].
• Urs Lüthi. Bonner Kunstverein, 1993; [...]; Kunstverein Freiburg, 1995. [Texte:] Annelie Pohlen. Klagenfurt: Ritter, 1993.
• Urs Lüthi 1993. The complete life and work, seen through the pink glasses of desire. Genève, Galerie Blancpain-Stepczynski; Köln, Kunstraum im Politischen Club Colonia; Saint-Fons, Centre d'Arts Plastiques, 1993–94.
• Rainer Michael Mason: Urs Lüthi. L'oeuvre multiplié 1970–1991. Genève, Cabinet des estampes, Musée d'art et d'histoire, 1991. Genève, 1991.
• Urs Lüthi. Ein Raum für Glarus. Kunsthaus Glarus, 1991. Ausschnitte aus einem Gespräch zwischen Urs Lüthi und Patrick Frey vom 12. Februar 1991. Zürich: Offizin, 1991.
• Urs Lüthi 1990. Helmhaus Zürich, 1990. [Texte:] Marie-Louise Lienhard, Beat Wyss, Hannes Böhringer. Zürich, 1990.
• Urs Lüthi. Wo der Traum in Liebe endet. Facetten eines Selbstportraits. Kunstverein München, 1987. [Beiträge:] Zdenek Felix, Christoph Blase. München, 1987.
• Urs Lüthi. Fata Morgana. Facetten eines Selbstportraits. Bremen, Gesellschaft für aktuelle Kunst, Weserburg, 1987. [Text:] Ruth Wöbkemeier. Bremen, 1987.
• Sehn-Sucht. (Facetten eines Selbstportraits). Urs Lüthi. Kunstmuseum Winterthur, 1986. [Texte:] Rudolf Koella, Annelie Pohlen. Winterthur, 1986.
• Urs Lüthi. Tableaux 1970–1984. Abbaye Royale de Fon-tevraud, 1984; Genève, Centre d'Art Contemporain, 1985. [Textes:] Patrick Frey, Walter Grasskamp, Michael Zochow. Fontevraud, 1984.
• Urs Lüthi. Essen, Museum Folkwang, 1978. [Text:] Zdenek Felix. Zürich: Galerie und Edition Stähli, 1978.
• Urs Lüthi. Kunsthalle Basel, 1976. [Texte:] Carlo Huber [et al.]. Zürich, 1976.
Lexika
• E. Bénézit: Dictionnaire critique et documentaire des peintres, sculpteurs, dessinateurs et graveurs de tous les temps et de tous les pays par un groupe d'écrivains spécia-listes français et étrangers. Nouvelle édition entièrement refondue sous la direction de Jacques Busse. Paris: Gründ, 1999, 14 vol.
• Biografisches Lexikon der Schweizer Kunst. Dictionnaire biographique de l'art suisse. Dizionario biografico dell'arte svizzera. Hrsg.: Schweizerisches Institut für Kunstwissen-schaft, Zürich und Lausanne; Leitung: Karl Jost. 2 Bde. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 1998.
• The Dictionary of Art. Edited by Jane Turner. 34 volumes. London: Macmillan; New York: Grove, 1996.
• Lexikon der zeitgenössischen Schweizer Künstler. Diction-naire des artistes suisses contemporains. Catalogo degli artisti svizzeri contemporanei. Hrsg. vom Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich; Leitung: Hans-Jörg Heusser. Frauenfeld: Huber, 1981.
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